Maßarbeit dank Nerven wie Drahtseile

Cagnes-sur-Mer, Sonntag, 12. März 2023. Es gibt Rennbahnen und Prüfungen, die scheinen einigen Trabern geradezu auf den Leib gemalt. Das Grand Critérium de Vitesse de la Côte d’Azur, der legendäre Meilen-Klassiker, mit dem das Winter-Meeting an der französischen Riviera in Cagnes-sur-Mer seinen grandiosen Schlusspunkt setzt, gehört dazu.
Fünfmal, von 1969 bis 1973, hat sich Weltchampionesse Une de Mai mit dem ebenso legendären Jean-René Gougeon auf der Ehrentafel verewigt. „Nur“ viermal (1986 bis 1989) hatte Ourasi die rote Nase ganz vorn. Auch Timoko, der in Cagnes überhaupt keines seiner sieben Matches verloren hat, schaffte von 2013 bis 2017 einen Viererschlag - mit einem Jahr der Unterbrechung 2014.
Auf bestem Weg, sich in diese königliche Gesellschaft einzureihen, ist Vivid Wise As, der bei sechs von sieben Engagements auf dem Hippodrom direkt am Meer den dicksten Scheck eingestrichen hatte. 2020 und 2021 hatte Alessandro Gocciadoro den Hengst der Scuderia Bivans noch selbst an die Kandare genommen, dann allmählich auf Wunsch von Besitzer Antonio Somma zu Matthieu Abrivard als Catchdriver umgeschwenkt. Der 37-jährige versah seine Sache mindestens genauso gut und saß erneut im Sulky des Italieners.
Eigentlich war das „Triple“ bereits im Vorjahr geplant, doch da machte ihnen der knochenharte Etonnant einen dicken Strich durch die Rechnung. Der war in dieser 66. Edition als Spielverderber nicht dabei, und weil ansonsten nicht allzu formüppige Kontrahenten unter Order waren - allein Gocciadoro hatte seinen Stall „geräumt“ und mit Charmant de Zack, Vernissage Grif und Vaprio drei weitere Schützlinge mitgebracht -, reichte den „turfistes“ ein aktueller Ehrenplatz im Prix de France hinter Ampia Mede SM, um Vivid Wise As für 1,8-fache Sieg-Odds loszuschicken.
Sie sollten Recht behalten, doch dürften noch 100 Meter vorm Ziel ihre Nerven blank und Schweißperlen auf ihren Stirnen gelegen haben. War es nun so abgesprochen, oder vertraute Matthieu Abrivard „mit Gott“ auf den enormen Endspurt seines Partners? Von der „7“ machte er für die „eine Runde plus die spätere Zielgerade Anlauf“ keinerlei Anstalten, auch nur annähernd um die Spitze mitzubieten, sondern nahm sofort zurück.
Die fochten Vernissage Grif (5), der sich nach 300 Metern gegen Moni Viking (4) durchsetzte, der norwegische Fuchs und die eisenharte Délia du Pommereux (6) unter sich aus, die letztlich für ihren 98. Auftritt den nie sonderlich beliebten Logenplatz als Erste der zweiten Reihe aufgedrückt bekam. Hinter ihr sortierten sich Gently de Muze, Charmant de Zack, Emeraude de Bais, dann erst Vivid Wise As, Vaprio und Blackflash Bar ein. Innen folgten Frisbee d’Am und Go On Boy. Bei zackiger Fahrt hatte diese Formation unter der herrlichen Nachmittagssonne bis in den Schlussbogen Bestand.
Mit eiskaltem Herzen und Nerven wie Stahlseilen wartete Abrivard auf das „Go“ einer Anderen: Emeraude de Bais, die vor gerade acht Tagen mit dem Prix du Plateau de Gravelle ihren üppigsten Coup gelandet hatte, wurde von Franck Nivard auf Attacke dirigiert, und natürlich hängte sich Vivid Wise As sofort an.
Es war ein höllisch enges Hauen und Stechen auf der ewig langen Zielgeraden. Vernissage Grif, hinterm dem sich Gocciadoro noch 150 Meter vor Abpfiff umschaute, wo denn seine Stablemates blieben, wehrte sich wie ein Berserker gegen Gently de Muze, dem Christophe Martens liebend gern den dritten Cagnes-Treffer des Winters verpasst hätte, Go On Boy hatte sich zunächst in Spur zwei schummeln können und war mittenmang dabei. Außen kam Emeraude de Bais mit unglaublicher Wucht angestiefelt und schien ihren größten Coup „ever“ schon in Sack und Tüten zu haben.
„So leicht nicht mit mir“, dachte sich Matthieu Abrivard und stukte mit all seiner Cleverness den Favoriten aus ihrem Windschatten tatsächlich am zweiten, dem 1.609-Meter-Zielpfosten, doch noch um einen „Hals“ vorbei. Vier Längen hinter den „Big Five“ hielt Moni Viking den Vivid-Wise-As-Sohn Charmant de Zack um eine Nasenspitze in Schach. Zwei weitere Längen zurück war Délia du Pommereux „Beste ohne Geld“; die gro0e alte Dame des französischen Trabrennsports hatte bei der kernigen Pace die undankbarste Aufgabe aufgedrückt bekommen.
Für Alex Gocciadoro hat sich der Gruppentrip über die Grenze vollauf gelohnt: Nur Vaprio nahm kein Geld mit zurück; 108.000 Euro schleppte der 47-jährige ab, der zur gleichen Zeit in Padua sechs Schützlinge in zwei Gruppe-Prüfungen am Start hatte.
Mit 1:09,1 blieb Vivid Wise As bei seinem 32. Volltreffer - Numero 15 auf höchstem Level -, der ihn auf 2.719.788 Euro brachte, nur um 0,2 Sekunden über dem gemeinsam von Bold Eagle (2018) und Readly Express (2019) gehaltenen 1:08,9-Rennrekord.
„Vivid hatte an der ‚7‘ einige Probleme, die nötige Fahrt aufzunehmen, und schon war der vordere Zug abgefahren, so dass ich zwangsläufig weit weg war. Zum Glück kam ich im Sog von Emeraude de Bais unter, die mir beim Sieg jüngst in Vincennes mächtig imponiert hatte. Ich dachte, wir bekämen sie leicht in den Griff. Doch sie wehrte sich enorm, und es war ein knüppelhartes Stück Arbeit für meinen Hengst. Aus solcher Lage so ein Ding noch umzubiegen - das gelingt nur den ganz großen Champions“, war Abrivard erleichtert, unter diesen Klassiker seinen Haken zu setzen: Bisher tauchte er in der Siegerliste noch nicht auf.
Zufrieden war auch Gocciadoro mit der fetten Prise, wenngleich „ich mir noch etwas mehr erhofft hatte und gern selbst auf die Ehrenrunde gegangen wäre. Aus der letzten Kurve wollte ich das Tempo verschärfen, aber Vernissage verlor ein klein wenig die Aktion. Er erholte sich gut, doch dieser kaum sichtbare Mini-Stopp kostete uns wohl Platz drei. Ich wusste, dass Vivid wieder in Top-Form war. Er präsentierte sich hervorragend, denn auf den letzten 350 Metern musste er einiges aufholen. Bleiben Vernissage und Vivid in dieser Verfassung, geht’s am 1. Mai in den Lotteria von Neapel.“
Der ist für Antonio Somma ein Heimspiel, bei dem er liebend gern seine gelbe Jacke mit den grünen Ärmeln in Front sehen möchte.
Eine Mischung aus leichter Enttäuschung und unbändiger Freude über das erneut grandiose Abschneiden der spätberufenen Emeraude de Bais tobte im Herzen Franck Nivards: „Schade, schade. Sie war erneut brillant, aber irgendwann musste ich losfahren, und dann hatte ich ausgerechnet Vivid Wise As ‚im Regal‘. Unterwegs ein Plätzchen weiter vorn - dann hätte sie vielleicht den ganz großen Coup landen können!“
Noch übler spielte das Rennfahrerglück Romain Derieux mit: „Go On Boy hatte nie freie Bahn und landete als Fünfter deutlich unter Wert. Aber Schwamm drüber - zu ändern ist‘s ja ohnehin nicht. Das Positive daran: Er hat gezeigt, dass er nach der langen Auszeit und dem mühsamen Re-Start für dieses Niveau wieder bereit ist.“
66. Grand Critérium de Vitesse de la Côte d’Azur (Gruppe I int., vier- bis elfj. Hengste & Stuten)
3. Lauf der UET-Elite-Serie
1609m Autostart, 200.000 Euro
1. Vivid Wise As 09,1 Matthieu Abrivard 18
9j.br. Hengst von Yankee Glide a.d. Temple Blue Chip von Cantab Hall
Be: Scud. Bivans; Zü: Allev. della Serenissima & Scud. Wise H; Tr: Alessandro Gocciadoro
2. Emeraude de Bais 09,1 Franck Nivard 130
3. Gently de Muze 09,2 Christophe Martens 77
4. Vernissage Grif 09,2 Alessandro Gocciadoro 130
5. Go On Boy 09,2 Romain Derieux 80
6. Moni Viking 09,6 Björn Goop 170
7. Charmant de Zack 09,6 Nicolas Ensch 280
8. Délia du Pommereux 09,8 Pierre-Yves Verva 91
9. Blackflash Bar 10,0 Santo Mollo 700
10. Vaprio 10,0 René Legati 820
11. Frisbee d’Am 10,2 Richard Westerink 1220
Sieg: 18; Richter: Kampf Hals - ¾ - k.Kopf - Hals - 4 - k.Kopf - 2 - 1 Länge; 11 liefen
Wert: 90.000 - 50.000 - 28.000 - 16.000 - 10.000 - 4.000 - 2.000 Euro
Video: https://www.letrot.com/fr/replay-courses/2023-03-12/0601/6